Dienstag, 31. Dezember 2013

"Lieber überwacht als tot"

2013 war das Jahr der Enthüllungen. Im Juni geriet mit den Aufdeckungen des Guardian-Journalisten Glenn Greenwald eine Lawine ins Rollen: US-Geheimdienste würden mit Hilfe des Programmes PRISM die weltweite Internetkommunikation überwachen können, noch umfassender sei das britische Überwachungsprogramm Tempora, berichtete eine zunächst anonyme Quelle.
Diese anonyme Quelle trat am 9. Juni in Person von Edward Snowden, einem ehemaligen technischen Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA, in Hongkong vor die Öffentlichkeit. Für ihn begann eine Odyssee, die am Flughafen von Moskau mit einem Antrag auf politisches Asyl in Russland endete.
Doch das alles war erst der Anfang: Stück für Stück kamen nun mehr Details über die Arbeit der NSA und anderer Nachrichtendienste zum Vorschein. Jeden Tag würden von den Geheimdiensten weltweit 5 Millionen Datensätze erfasst, hieß es. Mitten im Wahlkampf erreichte die Welle auch Deutschland: Die Daten unzähliger Bürger seien ausgespäht worden. Die USA würden also auch ihre eigenen Verbündeten überwachen. Quälend lange dauerte es, bis von der deutschen Regierung ein klares Statement zu vernehmen war. Die Affäre wurde schnell für beendet erklärt. Eine deutliche Reaktion aus Berlin kam erst, nachdem die Meldung bekannt geworden war, dass auch das Handy der Kanzlerin der Überwachung zum Opfer gefallen sei. Die Regierung gab sich empört. Der amerikanische Botschafter wurde einbestellt, der damalige Innenminister Friedrich reiste nach Washington und kam mit nichtssagenden Ergebnissen zurück.

Eine politische Eiszeit zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten ist dennoch nicht zu erwarten. Auch deutsche Geheimdienste spähen politische Verbündete aus und geben ihre Essays montagmorgens an Frau Merkel weiter. Heute wissen wir aber, dass auch die Daten von deutschen Bürgern massiv ausgespäht, dass deutsche Bürgerrechte verletzt wurden – und zwar von den Geheimdiensten der USA. Die Zeit der Naivität ist vorbei. Wir wissen, dass jeder unserer Schritte im Netz mitverfolgt werden kann. Natürlich, die wenigsten von uns haben sich jemals etwas zu Schulden kommen lassen. Doch im Rahmen des Anti-Terror-Kriegs könnten nebenbei auch Kaufgewohnheiten analysiert und wirtschaftlich wichtige Daten abgeschöpft werden: Handy-Ortung klingt nach einer modernen Errungenschaft, die sowohl vermisste Menschen als auch vermisste Mobiltelefone auffindet. Doch wenn jeder Schritt eines Menschen zurückverfolgt werden kann, dann ist das auch ein deutlicher Eingriff in die Privatsphäre. Nahezu jeder Mensch nutzt Smartphones, Google oder Facebook und gibt dort seine Daten preis. Eigentlich war es offensichtlich.

Eine interessante Tatsache am Rande: Schaltet man die Ortungsdienste an seinem iPhone aus, dann kann man Siri zwar nach Begriffen wie „Christentum“ oder „Buddhismus“ suchen lassen. Bei „Islam“ weigert sie sich aber (s. Video). Wo wir auch schon beim „Kampf gegen den Terrorismus“ wären. In seiner Kolumne schrieb Franz Josef Wagner: „Ich mag die Überwachung, sie ist ein Schutz. Ich bin lieber überwacht als tot.“ Die Zeitung mit den großen Buchstaben, in der diese Kolumne zu lesen war, hat nach eigenen Angaben etwa 12,3 Millionen Leser. Die meisten von ihnen dürften nachempfinden, dass es sich überwacht und gesteuert gut lebt, wo die Welt doch voll ist von bösen Menschen, die nur darauf warten, sich auf dem nächsten Weihnachtsmarkt in die Luft zu sprengen.
Die Überwachung dient schließlich ausschließlich unserer Sicherheit… – Selbst wenn wir das akzeptieren wollten, müssten wir uns einige Fragen stellen: Sind es wirklich die USA, die wir für unsere Sicherheit zuständig wissen wollen? Sind die USA denn wirklich an unserer Sicherheit interessiert?
Selbst wenn wir dies alles positiv beantworten können, bleibt eine weitere Frage: Ist es gerechtfertigt, dass die USA ihren „Kampf gegen den Terrorismus“ (oder das, was sie als solchen ausgeben) von deutschem Boden aus führen?
Ein weiterer interessanter Fakt: Das United States Africa Command (kurz: AFRICOM) befindet sich in Stuttgart. Von dort aus werden amerikanische Drohnenangriffe koordiniert. Im Klartext heißt das: Ein/e Soldat/in in New Mexico sitzt am Computer und steuert eine Kampfdrohne, die irgendwo in Somalia einen Terroristen tötet. Zielgenau, unbarmherzig und vor allem sauber. Die Anweisungen und Vorschläge für die jeweiligen Zielpersonen kommen aus Stuttgart, per Video-Chat sind die verschiedenen Glieder der sogenannten kill chain miteinander verbunden. Jedes fünfte Drohnenopfer ist Zivilist… – Sollte dies die deutsche Öffentlichkeit alarmieren? Wahrscheinlich schon, denn andernfalls hätte der deutsche Regierungsbeamte die Amerikaner nicht gebeten, die Einrichtung von AFRICOM so unauffällig wie möglich zu gestalten. „Das würde nur Anlass zu Schlagzeilen in der Presse geben und zu einer unnötigen öffentlichen Debatte führen.“ Und das will man in Deutschland ja nicht, öffentliche Debatten. (Einen interessanten Bericht lieferte der NDR: Video.)

Die USA sind unsere Verbündeten und vielleicht auch unsere Freunde. Und doch bleibt Europa für die meisten Amerikaner nur eine einzige, große und treue Militärbasis auf der Durchreise in den Nahen Osten. Das Jahr 2013 wird in die Geschichte vielleicht als ein Jahr des Umdenkens eingehen. Oder vielleicht auch nicht.
Asyl wollte man Edward Snowden in Deutschland nicht geben. Die NSA-Affäre war wohl nicht skandalös genug für einen solchen drastischen Schritt. Monate später ließ Putin seinen oligarchischen Rivalen Chodorkowski frei, der sich schnurstracks auf den Weg nach Berlin machte. Es war nur angemessen, ihn auf der Stelle herzlich zu begrüßen…


Weitere Beiträge zum NSA-Skandal und zur deutsch-amerikanischen Freundschaft:

Desillusionierung (4. November 2013)

Stimmen zur NSA-Affäre (aus dem FOCUS) (4. November 2013)

Gedanken zu Europa (25. Oktober 2013)

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