Dienstag, 11. Juni 2013

Interview: "Ein unverhältnismäßig heftiges und hochgefährliches Vorgehen"

Interview mit Philipp, Istanbul


Philipp, Du bist seit letztem Sommer im Rahmen des ERASMUS-Programmes für Studierende in Istanbul. An welcher Universität studierst Du?
Ich studiere an der İstanbul Üniversitesi, bin an der İlahiyat Fakültesi eingeschrieben, studiere aber vor allem an der İletişim Fakültesi und Arabisch.

Mittlerweile sind zwei Wochen seit dem Ausbruch der Proteste gegen die Regierung vergangen. Wo hast Du die Anfänge der Demonstrationen erlebt?
Bei den ersten Parkräumungen am Mittwoch, dem 29.05, und Donnerstag, dem 30.05, habe ich noch nicht viel vom Protest mitbekommen. Das hat sich am Freitag geändert, als uns unsere Dozentin von der gewaltsamen Parkräumung erzählte, nach der die Polizei die Zelte der Demonstranten in Brand gesteckt hat. Da ich hier noch nicht dabei war, handelt es sich dabei um Berichte von Bekannten. Am Freitag aber habe ich bereits in Kabatas (1km von Taksim) die Wirkung des Tränengases zu spüren bekommen und mich selbst nach Taksim begeben, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Dort kam es den ganzen Abend zu unverhältnismäßig heftigen Einsätzen der Polizei, die ich aus unmittelbarer Nähe miterlebt habe. Vereinzelt habe ich in Harbiye Steine werfende Demonstranten gesehen, in Cihangir jedoch, wo ich zu den Protesten stieß, habe ich das Verhalten der Demonstranten als vorbildlich und vollkommen gewaltfrei erlebt. Die Behauptung, die Polizei habe ohne Abwägung der Möglichkeiten und Beurteilung der Situation Pfeffergas eingesetzt kann, ich für die Lage in Cihangir als Augenzeuge unterschreiben.
Am Samstagmorgen, als die Polizeieinsätze weitergingen, war ich nicht in Taksim. Ab dem Abend war ich vor Ort, bis in die Nacht haben tausende Menschen auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park den Rückzug der Polizei gefeiert. Vereinzelt haben Provokateure Wägen von Fernsehsendern demoliert, bis auf diese Ausnahmen war die Stimmung ausgelassen und friedlich.
Am Sonntag sind wir nach Besiktas gegangen, um uns von den dortigen Protesten ein Bild zu machen. Die Zahl der Demonstranten schätze ich auf 3000. Die große Masse blieb in einiger Entfernung der Kampflinie von Demonstranten und Polizei, skandierte Parolen und war organisiert und friedlich. Etwa 20 Demonstranten befanden sich ca. 30 Meter vor der Hauptprotestgruppe in direkter Auseinandersetzung mit der Polizei, errichteten Barrikaden und warfen ausgerüstet mit Gasmaske und Handschuhen die Gaspatronen zurück in Richtung der Einsatzkräfte. Soweit ich dies miterlebt habe, beschränkten sich die Aktivisten dabei tatsächlich auf das Zurückschleudern der Polizeimunition (Pfefferpatronen), ich habe niemanden Steine oder schweres Material werfen sehen. Nach einer Weile begann die Großgruppe der Aktivisten die vorderste Linie des Protests mit Baumaterial zu versorgen (Sandsäcke, Holz, Ziegel) mit deren Hilfe eine Barrikade gegen die Polizei errichtet wurde. Die Barrikade und die Pfeffergas-Strategie der Demonstranten erwies sich als so effektiv, dass die Einsatzkräfte für etwa eine Stunde nicht weiter vorrücken konnten. Schließlich wurde ein Wasserwerfer angefordert um die Barrikade zu überwinden, was nach ca. einer weiteren Stunde gelang. Als die Demonstranten das Areal weiterhin nicht räumten, gaben sich in der großen Gruppe der ca. 3000 nur mit Slogans protestierenden Demo-Teilnehmer etwa 15 Zivilpolizisten zu erkennen, in dem sie mitten in der Menschenmenge Pfeffergas-Granaten zündeten. Unmittelbar von der Wirkung des Gases außer Kraft gesetzt, zogen wir - und 3000 andere Demonstranten - uns schnell aber organisiert in einige Seitenstraßen zurück. Dort öffneten uns Anwohner die Türen um uns vor dem Gas und der Polizei in Sicherheit zu bringen. Insbesondere den Einsatz des Pfeffergases innerhalb der friedlichen Masse der Demo-Teilnehmer beurteile ich als ein unverhältnismäßig heftiges und hochgefährliches Vorgehen. Dass beim fluchtartigen Rückzug niemand zu Schaden kam ist lediglich der Besonnenheit und Organisation der Demonstranten selbst zu verdanken, die trotz der Wirkung des Gases die Ruhe bewahrten. Nach etwa einer weiteren Stunde zog die Polizei ab und wir konnten die Wohnung wieder verlassen.

Wie viel bekommst Du selbst von den Demonstrationen mit? Haben die Proteste auch Einfluss auf das Leben auf dem Campus? 
Da gerade Klausurvorbereitungen sind, finden weitgehend keine Vorlesungen statt. Was ich miterlebt habe, ist dass viele Studenten ihrer Arbeit nachgehen, ohne sich umfassend für die Proteste zu interessieren. Neben einem sicherlich entscheidenden Teil der Bevölkerung, der sich an den Protesten beteiligt gibt es auch einen Teil, der die Eskalation der Proteste Provokateuren unter den Demonstranten zuschreibt oder sich schlicht nicht beteiligen möchte.

Wie berichten die türkischen Medien seit Beginn der Proteste über die Vorkommnisse? Hat sich ihre Haltung während der letzten Wochen verändert?
Das türkische Fernsehen hat bis auf wenige Ausnahmen in den ersten Tagen nichts von den Protesten gezeigt und diese auch nicht in den Nachrichten erwähnt. Als Medienstudent ist dies für mich in selbem Maße verwerflich wie die Heftigkeit der Polizeieinsätze, ein Gegenbeweis für eine freie Berichterstattung und ein Missbrauch der Pflicht, die Bürger objektiv über die Vorkommnisse im Land zu informieren. 
In den Tageszeitungen war ein etwas anderes Bild zu sehen. Diese haben die Eskalation am Freitag und Samstag weitgehend kritisch und unverblümt thematisiert, zum Teil auch über Interviews und Zitate die Regierung in die Pflicht genommen und Unmut über die Heftigkeit des Vorgehens geäußert.

Ministerpräsident Erdoğan hat sich nach der Rückkehr von seiner Afrika-Reise wenig kompromissbereit gezeigt. Wie reagieren die Demonstranten?
Soweit ich das beurteilen kann hat der Großteil der Demonstranten mit keiner anderen Haltung des Ministerpräsidenten gerechnet. Sie führen ihren friedlichen Protest im Gezi-Park fort und äußern ihre Meinung. Wenn Erdoğan Gesprächsbereitschaft zeigen würde, denke ich nicht, dass sich die Demonstranten einem Dialog verweigern würden.

Wie lässt sich der Hintergrund derjenigen beschreiben, die auf die Straße gehen? Sind es spezielle Gruppen, die demonstrieren?
Es sind vor allem Studenten, Künstler, Kurden, Kemalisten und Linke würde ich sagen, wobei sich auch Nationalisten und die "Muslime gegen Kapitalismus" beteiligen. Was den sozialen Stand und das Alter betrifft sind alle Schichten vertreten.

Man kann nicht leugnen, dass die Demonstrationen nun schon eine ganze Weile andauern. In den deutschen Medien erschien der eine oder andere Kommentar, der die Proteste am Taksim-Platz schnell in Verbindung mit dem Arabischen Frühling gebracht hat. Was denkst Du darüber? 
Ich sehe den Vergleich mit dem Arabischen Frühling sehr kritisch. Erdoğan ist erst kürzlich mit beinahe 50 Prozent der Volksstimmen im Amt bestätigt worden und erfährt auch weiterhin großen Rückhalt. Es handelt sich hier nicht um einen Protest des gesamten Volkes gegen eine totalitäre Regierung, sondern um einen Teil des Volkes der sich erzürnt nicht gehört zu werden. Soweit ich das beurteilen kann, ist es ein Novum, dass sich ein so großer Teil der Bevölkerung geschlossen Gehör verschafft und das ist unter demokratischen Gesichtspunkten ein immenser Gewinn. Die Türkei ist allerdings kein Nordafrikanisches Königreich sondern eine Republik inklusive Verfassung und Parteienvielfalt. Meiner Meinung nach ist das richtige Mittel gegen die Autoritätsansprüche der im Moment starken AKP kein Sturz, Putsch oder Bürgerkrieg, sondern Aufklärung und politische Bildung - ein Prozess der mehr Zeit in Anspruch nimmt als einen Frühling.

Danke für das Gespräch!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen