Montag, 15. April 2013

Die nationalsozialistische Unterschwelligkeit (NsU) am deutschen Stammtisch


[aus: "Deutschland - Abschaffen oder durchstarten? Eine Gesellschaft zwischen modernd und modern"]

Heute Nachmittag wurde bekanntgegeben, dass der für den 17. April 2013 angesetzte Prozessbeginn gegen Beate Zschäpe und die Unterstützer des NSU auf Anfang Mai verschoben wird. Dieser Aufschub wirft erneut kein gutes Bild auf die deutsche Justiz: Nicht nur Juristen und Pressevertreter müssen nun ihre Hotelzimmer stornieren, sondern auch die Angehörigen der Opfer, die teilweise schon angereist waren und sich auf das Zusammentreffen mit den Terroristen, die ihre Väter und Ehemänner umbrachten, vorbereiten hatten. Nun müssen sie sich dieser Situation am 6. Mai erneut stellen. Andererseits reagiert das Gericht damit auf die Fehler, die bei der Sitzplatzverteilung gemacht wurden und mischt die Karten neu.
Das Thema NSU und Rechtsextremismus wurde heute wie so oft in den letzten Tagen auch im Radio angesprochen. In SWR1 Leute waren am Vormittag zwei prominente Aussteiger aus der rechten Szene zu Gast: Andreas Molau, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur der NPD-Parteizeitschrift Deutsche Stimme, und der ehemalige Bundesvorsitzende der Jungen Nationalen Stefan Rochow, der nach seinem Austritt aus der NPD katholische Theologie studierte. – Rochow war 2008 aus der Szene ausgetreten, Molau erst 2012. Während der eine aus religiösen Gründen den Rechten seinen Rücken zugekehrt hatte, war der andere mit der Zeit libertär geworden und hatte sich von den verstaubten Ideologien der Neonazis gelöst. Jede Form von Ideologie und zementierter Weltanschauung sei verhängnisvoll, sagte er im Interview. Er lehne einfache Weltbilder, die man im Übrigen nicht nur bei der NPD fände, mittlerweile ab.

Einfache Weltbilder – die finden sich wirklich nicht nur im einschlägig rechtsextremen Spektrum. Auch der berüchtigte Stammtisch weist in der Kneipe, bei Grillfesten oder Familiengeburtstagen ein gewaltiges Potential auf, was die Einteilung der Welt in „wir“ und „die“ betrifft. Und vor allem wenn es um Türken geht…

Deutschland und seine Türken

Noch heute sind viele Deutsche der Meinung, die in Deutschland lebenden Türken seien Gäste. Deshalb hätten sie sich schließlich auch wie welche zu benehmen. Allerdings würde die Situation in den bundesdeutschen Gefängnissen beweisen, dass sich die meisten von ihnen eben nicht zu benehmen wüssten. Außerdem würden Gäste irgendwann auch wieder gehen, was der Ali allerdings falsch verstanden hätte. – Da sind sie, die einfachen Weltbilder, die sich von 1960 bis heute erhalten und mitunter verschlimmert haben.
Der Durchschnittsdeutsche fordert, dass sich Türken wie gute Gäste benehmen sollten. Eine ziemlich dreiste Forderung, oder nicht? Haben wir uns denn jemals Gedanken darüber gemacht, ob wir gute Gastgeber gewesen sind?
Wir fragen uns, wieso sich noch immer viele unserer türkischen Mitbürger nach ihrem Tod in ihrer Heimat begraben lassen. Wir verstehen nicht, warum so viele von ihnen an ihrer türkischen Staatsbürgerschaft festhalten – auch in dritter Generation. Vielleicht liegt es daran, dass wir es immer noch wagen, alle Menschen schon aus der Ferne in „Deutsche“ und „Ausländer“ einzuordnen – eben auch jene, die mittlerweile schon seit Generationen hier verwurzelt sind. Wir schielen alle zwei Jahre zu unseren Nachbarn hinüber und beobachten, welche Flagge sie vor dem Fußballspiel an ihren Balkon hängen. Ein großer Teil der deutschen Türkei-Urlauber besucht das Land nur wegen der Sonne und des unbegrenzten Essens und wagt sich in zwei Wochen Side nur zu ein oder zwei Trips außerhalb des Hotelbunkers. Zurück daheim sind wir empört, wenn türkische Ministerpräsidenten auf Deutschlandbesuch unter ihren Landsleuten mit populistischen Reden nach Wählerstimmen fischen. Und wir sind erst recht entsetzt wenn wir merken, dass diese Menschen noch immer an den Politikern in ihrer alten Heimat und oft auch am türkischen Nationalismus festhalten. Aber trotzdem schaffen wir es nach mehr als 50 Jahren noch immer nicht, Namen wie Bozkurt oder Özdemir richtig auszusprechen. Wenn wir ehrlich sind müssen wir uns eingestehen, dass wir diesen Menschen von Anfang an wenig entgegnet haben. Wir waren keine guten Gastgeber. Billige Arbeitskräfte sind stets erwünscht gewesen, doch wirklich willkommen waren sie nie. Günter Wallraffs Buch Ganz unten erschien 1985 und deckte – neben einigen anderen Aspekten – zum ersten Mal auf, wie man mit ausländischen Arbeitnehmern in deutschen Industriebetrieben umging. Dabei musste er sich selbst erst als Türke ausgeben, um der deutschen Arroganz auf den Zahn fühlen zu können.
Natürlich ist der Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen nicht einfach. Sicherlich muss sich der Ankommende an die Regeln halten, die hier gelten. Respekt und der Versuch von Verständnis auf beiden Seiten sind das wichtigste, um miteinander auszukommen. Ein gutes Miteinander beruht immer auf Gegenseitigkeit. Doch so mancher Türken- oder Dönerwitz von damals hat sich bis heute gehalten. Vielleicht hätte verhindert werden können, dass im Fahrwasser unserer stellenweise erschreckend desinteressierten Gesellschaft militante Nationalisten durch Deutschland getourt sind und nahezu unbemerkt neun Menschen, die meisten davon türkischstämmig, ermorden konnten. Doch es fehlte uns an Sensibilität. Man hätte nur die einen oder anderen Zeichen erkennen müssen. Scheinbar hatte niemand realisiert, dass die letzte Konsequenz des Slogans „Deutschland den Deutschen!“ für deutsche Neonazis der Mord an Imbissbetreibern, Blumenverkäufern und Änderungsschneidern sein musste. Und zu allem Überfluss war der Boulevard auch gleich dazu bereit, die Mordserie als „Dönermorde“ zu betiteln.

Unterschätzte Gefahr

So mancher Stammtischredner war mit Sicherheit erschüttert, als die Mordserie der NSU aufgedeckt worden war. Und vielleicht haben viele Menschen begriffen, dass man mit dem rechtsextremen Potential, das überall in Deutschland jederzeit abrufbar ist, nicht spaßen sollte.
Nachdem der erste Schock von der Öffentlichkeit halbwegs verdaut war, stellte sich die Frage, was man nun ändern müsse. Der Verfassungsschutz hatte jahrelang versagt, obwohl die nötigen Informationen vorhanden waren. Und er versagt bis heute. Immer mehr Ermittlungspannen werden öffentlich.
Wird der Verfassungsschutz seiner Aufgabe noch gerecht? Was nützt eine solche Institution, wenn sie bärtige, muslimische Hassprediger beobachtet und Beamten durch das aufmerksame Lesen der Zeitungen die Linkspartei beobachten, während rechtsextreme Terroristen den bewaffneten Kampf gegen unsere Mitbürger aufnehmen?
Und auf politischer Ebene? Ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD wird vorangetrieben. Allerdings ist dies nur eine leere Formalität, die zwar an der finanziellen Situation der deutschen Rechtsextremen etwas ändern könnte, nicht aber an den Inhalten. Die Gesellschaft sollte langsam einsehen, dass ein Verbot der politischen Partei noch nicht das Kernproblem, den Starrsinn der Anhängerschaft, löst. Ein Verbotsverfahren gegen die NPD sollte am Ende der Mittel stehen, die es gegen den Rechtsextremismus noch auszuschöpfen gibt. Viele Mittel in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sind noch gar nicht genutzt worden, um Nazis zu bekämpfen. Vielleicht ist ein Verbot notwendig. Aber es befreit uns nicht von den großen Aufgaben, die noch auf uns zukommen:
Vertrauen wieder herstellen und Extremisten mit den besseren Argumenten bekämpfen.

Wenn am 6. Mai in München der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte beginnt, werden mit Sicherheit auch mehr Details über die grausigen Taten zutage kommen. Mit dem Ende dieses Prozesses wird das Vertrauen in Deutschland, die verfassungsschützenden Organe und die Justiz vielleicht wieder ein Stück gestärkt. Doch es wird noch lange dauern, bis die Wunden heilen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen