Freitag, 30. März 2012

Jerusalem des Südostens und ungeschliffene Perle des Balkan: Ein historischer Streifzug durch Sarajevo

Kulturelles Miteinander als Markenzeichen

Als Isa-Beg Ishaković, der erste osmanische Gouverneur von Bosnien, sein Anwesen in einer Siedlung an der Miljacka bauen ließ, entstand der Begriff saray ovası – die Felder um den Palast. Aus diesem Wort bildete sich im Laufe der Jahre der Name Sarajevo. Aus der kleinen Siedlung wurde eine bedeutende Stadt des Türkenreiches mit all ihren charakteristischen Strukturen, die sich vom Saray des Gouverneurs in alle Richtungen erstreckten. Im Sarajevo-Museum, das sich im Basar-Viertel der Stadt befindet, lerne ich, dass es in dieser osmanischen Stadt früher eine gut durchdachte Gliederung gab: Jedes Viertel (mahala) bestand aus 30 Häusern. Den Mittelpunkt eines Viertels bildete je eine Moschee mit Friedhof und öffentlichen Trinkbrunnen sowie eine Grundschule (mekteb), eine Bäckerei und ein Gemüsehändler.
Was ist bis heute von der bedeutenden Stadt geblieben, die 400 Jahre lang das osmanische Zentrum des Balkan darstellte?
Noch heute sind die Strukturen der historischen Altstadt erkennbar: Die niedrigen Häuser, die Moscheen und der überdachte Basar, in dem sich heute Modegeschäfte befinden, prägen das Straßenbild. Doch nicht nur geschichtsträchtige Gebäude und architektonisches Erbe sind bis in die heutige Zeit gepflegt und nach dem letzten Krieg (1992-1996) wieder aufgebaut worden. Auch der Geist der Stadt hat den Schlachten und Auseinandersetzungen der letzten Jahrhunderte getrotzt. Schon vor 600 Jahren waren die Religionen – über die sich auf dem Balkan größtenteils auch die Nationalität definiert hat – respektiert worden. Bis heute gibt es in Sarajevo eine Vielzahl alter Kirchen, Moscheen und sogar mehrere Synagogen Die Religionen und Kulturen haben hier nebeneinandergelebt ohne große Schwierigkeiten und in Eintracht. Katholische Kaufleute aus Dubrovnik, orthodoxe Serben, zum Islam konvertierte Bosniaken, spanische Juden und osmanische Türken.

Noch heute ruft ab und zu der Muezzin ohne Megafon vom Minarett der Baščaršija-Moschee. Er ist kaum zu hören, und sein Gesang wird im Gegensatz zu den klangvollen, lauten Gebetsrufen der anderen Moscheen nur wenig wahrgenommen. Der Ruf der Muezzine und das Läuten der Kirchenglocken – alle zusammen erzeugen sie ein unbeschreibliches Kompositum, das man in dieser Form nur in Städten wie Sarajevo oder Jerusalem zu hören bekommt.

Das Jerusalem Südosteuropas

Diese Mixtur aus Kirchen, Moscheen und anderen religiösen Stätten brachte Sarajevo den Namen „Klein-Jerusalem“ oder „Jerusalem Südosteuropas“ ein. Doch dies war nicht der einzige Grund. Sarajevo hat auch eine interessante und vielfältige jüdische Geschichte:
Als einer der wenigen Orte in Europa braucht Sarajevo seine jüdischen Stätten nicht mit Polizeischutz auszustatten. Die alte Synagoge liegt mitten im Stadtkern, dort wo sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts die aus Spanien vertriebenen sefardischen Juden angesiedelt hatten. Nicht abseits des Zentrums, eingepfercht in Ghettos, wie andernorts in Europa. In Sarajevo konnte sich ein Miteinander zwischen Juden und Nichtjuden gut entwickeln. Religiöse Minderheiten prägten die Vielfalt der Stadt. Die jüdische Bevölkerung war gut integriert und hatte Teil am gesellschaftlichen Leben.
Die Juden Sarajevos und des ganzen Balkans stellen einen interessanten Aspekt der jüdischen Kultur dar: Da sie aus Spanien stammten sprachen sie eine spätmittelalterliches Spanisch, das bis in die moderne Zeit gepflegt worden war und auch durch bosnisch-jüdische Schriftsteller und Philologen am Leben erhalten wurde. Genaueres kann man im Jüdischen Museum erfahren, das sich in einer ehemaligen Synagoge befindet und überraschend gut ausgestattet ist mit Relikten und Kulturgütern, die von der Geschichte der bosnischen Juden erzählen, über ihre Anfänge bis hin in die Zeit nach dem Holocaust. Hier lernt man auch etwas über die bedeutenden Juden der Stadt. Da ist zum Beispiel die Schriftstellerin Laura Papo (1891-1942), die La Bohoreta genannt wurde, Theaterstücke schrieb und sich sozial engagierte. Auch Sprachforscher wie Baruch Kalmi, der 1945 im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, schufen wichtige Werke zur Erhaltung der judäo-spanischen Sprache des Balkan. Schriftsteller wie Isak Samokovlija, der bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges in Sarajevo lebte und wirkte, hatten nicht nur Anteil an der Erhaltung der jüdischen Kultur, sondern trugen mit ihren Werken auch zur Nachkriegsliteratur Jugoslawiens bei.
Samokovlija liegt auf dem jüdischen Friedhof begraben, den ich natürlich auch besuchen musste. Da Sarajevo im März noch nicht schneefrei war, lag auch der jüdische Friedhof unter einer weißen Decke aus Schnee und Eis versteckt. Ich hatte gehört, dass hier noch Minen aus dem letzten Krieg liegen sollen, doch der Museumswärter Kabiljo hatte mir gesagt, dass dort heute alles minenfrei sei. Der zweitgrößte jüdische Friedhof Europas – nach Prag – birgt eine Unmenge an Grabsteinen aus mehreren Jahrhunderten, Denkmäler für die Opfer des Holocaust und der kommunistischen Ära sowie eine wunderbare Aussicht über die weniger sehenswerte Weststadt von Sarajevo. Der kleine Ausflug nach Kovačići, wo der Friedhof liegt, hat mir nasse Füße beschert und einige wunderbare Fotomotive.

Ein Erzherzog und sein Attentäter

Als die österreichischen Verbände die Stadt im Jahre 1878 unter schweren, dreimonatigen Kämpfen besetzten, begann sich auch das Bild zu verändern. Aus der osmanischen Šeher wurde eine europäische Großstadt, deren Neustadt nach westlichem Vorbild gebaut wurde. Moderne Verwaltungsgebäude ergänzten nach und nach die Fassade Sarajevos. Und dennoch fanden österreichische Architekten hier einen hervorragenden Platz, um ihre Ideen auszuleben und eine neue, orientalistische Stilrichtung auszuprobieren. Im Sinne des maurischen Stils Spaniens wurde zum Beispiel die Nationalbibliothek Sarajevos errichtet. Imposante Bögen und ein mit Zinnen verziertes Dach passen sich in das multikulturelle Stadtbild ein. Auch religiöse Gebäude wie die große katholische Kathedrale stammen aus österreichischer Zeit.
Berühmtheit erlangte Sarajevo wohl vor allem durch ein Attentat, das hier stattfand: Am 28. Juni 1914 verübte der serbische Nationalist Gavrilo Princip ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie. Dabei war es eigentlich ein Zufall gewesen, der dem Thronfolger zum Verhängnis wurde: Eine Bombe hatte ihn nicht töten können, alle sieben Attentäter hatten ihn verfehlt. Als der royale Zug das Rathaus erreicht hatte, soll sich Franz Ferdinand beim Bürgermeister persönlich beschwert haben: „Herr Bürgermeister, Da kommt man nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen und wird mit Bomben beworfen! Das ist empörend!“ Das sollen seine Worte gewesen sein – es waren wohl auch die letzten. Denn bei der Rückfahrt bog der Chauffeur falsch ab und musste umdrehen. Der enttäuschte Gavrilo Princip trank in einem Café währenddessen seelenruhig eine Tasse Mokka, als er den Erzherzog vorbeifahren sah. Er konnte sein Glück kaum fassen, zog seine Pistole der Marke Browning und erschoss den Thronfolger sowie seine Gattin.
Die Pistole hängt heute im kleinen, aber gut ausgestatteten „Sarajevo 1878-1918“-Museum, in dessen Eingangsbereich sich auch die in Beton gegossenen und in Jugoslawien verehrten Fußabdrücke des Attentäters befinden.
Princip und die anderen Attentäter wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Attentat selbst hatte jedoch weitaus gravierendere Folgen: Das Pulverfass Europa explodierte und leitete die Welt in den ersten und bis dahin einzigen Weltkrieg, in dessen Folge fast zehn Millionen Menschen starben. Mit diesem Ereignis ging der Name Sarajevo in die Geschichtsbücher ein.

Das 20. Jahrhundert

Der Balkan war im 20. Jahrhundert Schauplatz unzähliger Kriege. Auf den Ersten folgte der Zweite Weltkrieg, dann wurde der Faschismus vom Sozialismus abgelöst. Die meisten Bosnier kämpften als Partisanen gegen die nationalsozialistischen Invasoren und verloren nicht selten dabei ihr Leben. Doch es gab auch andere: Aus einer Romanze Heinrich Himmlers mit den Ideologien der Muslimbruderschaft entstand die Idee, muslimische Bosniern für den Kampf gegen die Partisanen zu rekrutieren. Die sogenannte Handschar-Division umfasste 21.000 Mann und wurde spirituell gesehen unter die Fittiche des aus Palästina geflohenen Großmuftis von Jerusalem, Muhammad Amin al-Husseini, genommen, der bis heute aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu den Nationalsozialisten berüchtigt ist. Als Teil der Waffen-SS nahmen diese Bosnier auf Seiten der Deutschen am Zweiten Weltkrieg teil.
Nach dem Krieg trat Jugoslawien als Vielvölkerstaat auf dem Balkan in die Reihen der Blockfreien ein, zentral gelegen zwischen Ost und West. Doch zu Beginn der 1990er Jahre löste sich auch die Verbindung der slawischen Völker, die stets von Serbien dominiert wurden, langsam auf. Nachdem Bosnien im Jahre 1992 seine Unabhängigkeit erklärte, kam es zum Krieg. Sarajevo wurde fast vier Jahre lang belagert. Die Spuren der Zerstörung sind teilweise bis heute sichtbar: Einschusslöcher in den Fassaden, mühevoll zugegipste Wunden der Geschichte. Ruinen in der Vorstadt. Und die vielen, vielen Friedhöfe.

Heute hat Sarajevo seinen einstigen Charme wiedererlangt. Die kulturellen Anziehungspunkte sind hergerichtet und liebevoll restauriert, die neu eingerichteten Museen bieten Einblicke in die Geschichte und die Restaurants der Stadt laden zum Schmaus. Zwar ist die Fußgängerzone akustisch noch dominiert von dem Klackern der Steinplatten, die bisweilen für den Fußgänger unsichtbare Stolperfallen verbergen und das März-Schmelzwasser an die Hosenbeine der Passanten schießen, doch der Duft aus den unzähligen Čevabdžinicas (Restaurants für Ćevapčići) und Buregdžinicas (Imbissläden für Burek) sowie der Klang der verschiedenen Religionen, wie sie ihre Gläubigen zum Gebet rufen, sprechen für sich. Im Sommer, wenn die Cafés einladen, auf der Straße zu sitzen und das Treiben zu verfolgen, gibt es keinen passenderen Ort, um den Balkan leben zu sehen als die „ungeschliffene Perle“ Sarajevo. Wenn die Völker Bosniens irgendwann den Weg zur endgültigen Versöhnung finden und die letzten Tretminen aus den vielen Wäldern des Landes verbannt sind, dann ist auch Bosnien bereit für Europa.



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