Montag, 19. März 2012

Heute fährt die 18 bis nach... Tirana!

Die Landung ist holprig, das Flugzeug ruckelt über die Landebahn des Flughafens, der den Namen der Mutter Theresa trägt. Angekommen in Albanien – ein schlichter Stempel im Reisepass, ohne den charakteristischen und von mir erhofften Adler, eine billige Busfahrt durch kahle Landschaften und die immerstaubigen Vororte Tiranas, unterlegt mit der Musik, die bei uns Ende der Neunziger aktuell war.
Wer im März in die albanische Hauptstadt kommt, wird empfangen von der überraschenden Milde der Frühlingssonne und vom dennoch kühlen Wind, der von den schneebedeckten Bergen herweht und die Abgase der verkehrsbelasteten Straßen in einer klaren Brise davonträgt. Am Skanderbeg-Platz empfängt mich die merkwürdige Routine Südosteuropas: An einer Kreuzung steht ein Verkehrspolizist, ab und zu hört man eine Hupe. Die Menschen gehen ihres Wegs, auf Bänken sitzen alte Männer und arbeitslose Tagelöhner. Als würde es keine EU geben. Die Menschen hier kümmern sich genauso wenig um die europäische Einheit wie um den Euro. Hier ist die Welt noch in Ordnung, kein Hybridgemüse und keine Regulationen aus Brüssel. Um den Platz in der Mitte Tiranas steht all das, was Albanien repräsentiert: Gegenüber dem Nationalhistorischen Museum mit seiner gewaltigen Mosaikfassade thront das Tirana International Hotel, das früher nur Hotel Tirana hieß und bei der Bevölkerung das Fünfzehnstöckige genannt wird – ein bisschen Sozialismus gefällig? Daneben die Oper. Eine Hausnummer weiter hält die Et’hem-Bey-Moschee mit Glockenturm und Minarett die Fahne des muslimischen Erbes hoch – weitgehend unerhört. Dem Ruf des Muezzins folgen nur alte Männer mit Gebetsmütze oder dem für Albanien typischen weißen Filzhut, der Qeleshe. In der Mitte des Platzes steht stolz eine große Bronzestatue des spätmittelalterlichen albanischen Nationalhelden Georg Kastriota alias Skanderbeg, der das Land lange Zeit gegen die Osmanen verteidigt hatte und nachdem der Platz benannt ist.


Und im Hintergrund immer noch die schneebedeckten Gipfel. Der Mt. Dajti ist mit einer Gondelbahn erreichbar. Wer die Aussicht auf weniger spektakuläre Weise genießen will, muss den Großen Park „besteigen“. Überraschend hügelig ist dieses Freizeitgelände am südlichen Ende der Stadt, wo sich Jogger und Bummler tummeln, jung und alt in den Cafés am künstlich angelegten See die Zeit um die Ohren schlagen. Auf den Hügeln des Parks finden sich auch Kriegsgräber. Graue und weiße Grabsteine und Namenstafeln erinnern einmal an die britischen und an anderer Stelle an die deutschen Gefallenen des Zweiten Weltkriegs.

Die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt lassen sich in einem einzigen Nachmittag fassen. Und doch lohnt es sich, einen Teil seiner Zeit auf einer Bank in einem der anderen Parks der Stadt zu verbringen und die Menschen zu beobachten. Die Jugend spielt Fußball, die Mädchen hüten ihre jüngeren Geschwister. Eine Roma-Frau verkauft Blumensträuße und hat ihren Säugling anderswo auf einer pappe abgelegt. An einem strategisch günstigen Ort, wo die Menschen mehr Geld auf die Straße klimpern lassen als am Blumenstand. Das Kind liegt da so und gluckst fröhlich vor sich hin. Irgendwie skurril.
Tirana ist die Stadt der Mimosen. Unzählige Passanten tragen diese gelben Sträuße nach Hause, schmücken damit den Esstisch oder legen sie auf den Rücksitz des Autos. Der Duft erfüllt die Luft. Verkauft werden diese Blumen an Straßenecken, von auf dem Boden hockenden Verkäuferinnen, in den belebten Einkaufsstraßen. Hier gehen die Menschen ihren Einkäufen nach und begutachten die neuste Mode in den Schaufenstern. Sonnenbrillen sind Mode und ein Muss. Sie werden an einem fahrbaren Stand verkauft, der früher mal ein Auto war. „Frisch vom Bäcker!“ verspricht eine fast schon antike Aufschrift auf der Rückseite. Heute gibt es hier Zigaretten und getönte Augengläser. Ab und an kommt mir ein Bus entgegen, der die Aufschrift „Dienstfahrt“ trägt. Da hier keiner Deutsch spricht, interessiert es auch keinen. Als der Bus vor 20 oder mehr Jahren seine letzte Fahrt in Deutschland angetreten hat, ging sein neues Leben auf dem Balkan gerade erst los. Einmal kommt die Nummer 18 um die Ecke gedüst, Buxtehude über Neustädter Siedlung. Heute geht die Fahrt aber bis zum Skanderbeg-Platz und dann retour.

Ein Ausflug mit dem Linienbus, hinaus zu einem der umliegenden Orte. Die Fahrt nach Kruja dauert eine gute Stunde. An einer Kreuzung, wo der Highway auf die Landstraße trifft, müssen alle aussteigen. Weiter geht es mit dem Furgon, einer Art Sammeltaxi. Dreimal so teuer für ein Drittel der Strecke. Beim ersten Mal muss man immer Lehrgeld zahlen. Dafür finde ich hier das, was ich gesucht hatte: Ein voll besetzter Minibus mit zu hohem Tempo und mit Menschen, die allesamt kein Wort Deutsch oder Englisch verstehen. Das steht einer Unterhaltung über Fußball keineswegs im Weg. Auf den Serpentinen nach oben, zu dem Berghang hinauf, an dem Kruja liegt, kommt man durch einen dünnen Nadelwald, gespickt von den unzähligen sozialistischen Bunkern mit ihrer kleinen, hässlichen runden Kuppel. Ein Albaner soll zwecks Garagenbaus einmal versucht haben, einen dieser Betonpilze abzureißen. Ganze drei Monate soll er gebraucht haben. Hier allerdings stehen sie noch in der Gegend, wie an so vielen Orten des Landes. Ohne System, mal gepaart, mal einzeln. Der Fahrer des Wagens entpuppt sich als Fan des FC Bayern München. Ein älterer Polizist steigt zu uns ein. Er wirft seine Dienstmütze lässig auf das Armaturenbrett. Die Stimmung ist ausgesprochen heiter. Die Policia in Gjermania sei bestimmt anders, bemerkt der Fahrer. Der Polizist lacht und klopft ihm auf die Schulter.
Oben auf dem Berg wartet das als gewaltige Festung getarnte Skanderbeg-Museum. Normalerweise kann man hier erfahren, wie der Kriegsherr und Nationalheld die Gegend vor den Osmanen verteidigte und von Kruja aus über 20 Jahre lang herrschte. Doch jetzt gerade machte das Museum Mittagspause. Ich genieße die faszinierende Aussicht und schaue mir das Ethnografische Museum an, das gleich nebenan steht. Wer ein wenig Sinn für Kultur und Brauchtum vorgaukeln will, muss auf jeden Fall hierher kommen. Es soll das beste Museum dieser Art sein in Albanien. Man bekommt das zu sehen, wovon in der städtischen Kultur fast nichts mehr übrig ist. Die Trachten sind bunter, die Zimmer hölzern. Jedes Landhaus hatte ein türkisches Dampfbad. Auf dem Rückweg in die Stadt komme ich durch den Basar, wo man ebensolche Häuser findet. Umgebaut, aber immer noch traditionell beherbergen sie Antiquitätenläden und Teppichwerkstätten, in denen man den Frauen bei der Weberei zuschauen kann. Ich erwerbe einen der traditionellen albanischen Filzhüte, die Qeleshe. Dann mache ich mich – für ein Fünftel des auf der Hinfahrt ausgegeben Geldes – auf den Rückweg nach Tirana.

Tirana ist auf ihre eigene Art faszinierend. Es ist die Mischung aus Lärm und Ruhe, Überfülltheit und Erholung im Park, Sozialismus und Moderne. In den hinteren Straßen gerät man in einen belebten Markt, von dem man nicht weiß, ob er ein bunter oder schon ein Schwarzer Markt ist. Wahrscheinlich ein bisschen von beidem. Doch wenn man billige Handys sucht, dann ist das die beste Adresse. Seitdem man das kommunistische Regime Anfang der Neunziger abgesägt hat, wurde auch am Make-up der Stadt gepinselt: Die früher wohl grauen Häuserblocks und Massenwohnquartiere wurden orange und gelb gestrichen, mit dicken Punkten versehen oder durch bunte Balkone freundlicher gemacht. In Tirana lässt es sich aushalten. Die Stadt ist seit zwanzig Jahren im Wandel – doch der unwissende Besucher erkennt die Richtung dieses Wandels nicht. Es ist wahrscheinlich, dass selbst die Albaner es nicht wissen. Doch für diesen Wandel haben sie gekämpft, und nicht wenige mussten ihr Leben lassen. Im Nationalhistorischen Museum, das von innen gar nicht so sozialistisch wirkt wie von außen, erfährt man Näheres über die Revolution. Allerdings sollte man der albanischen Sprache mächtig sein, denn Englisch ist relativ rar. Es geht von der Antike über die Zeit der Osmanen und den (siegreichen) Schlachten des Skanderbeg bis hin zum albanischen nationalen Erwachen, das das Kosovo mit einschließt. Am Ende wartet ein Saal, der die Zeit des Kommunismus und seiner Konzentrationslager aufarbeitet. Die Schicksale, die diese Ausstellung erzählt, sind auch ohne große Sprachkenntnisse tief bewegend. Die Bilder und Texte berichten von Menschen, die 30 Jahre lang im Lager oder im feuchten Keller eines Gefängnisses überlebten. Eine andere Vitrine zeigt die Gegenstände, die Arben Vogil bei sich trug, als er im Februar 1991 vom Geheimdienst zu Tode gefoltert wurde: das blutverschmierte Hemd, sein Pass, ein Taschentuch, eine halb geleerte Packung Zigaretten und die Schlüssel, mit einem kleinen Plastikfußball als Schlüsselanhänger. Er fand mit (zu) vielen anderen in den Tagen der Revolution den Tod. Einige Tage zuvor hatte man die Enver-Hoxha-Statue gestürzt. Teile des Kabels, mit dem man den großen, 30 Meter hohen Bronze-Diktator zu Fall gebracht hatte, liegen in derselben Vitrine.
Wieder draußen am Tageslicht erkenne ich, dass man zuhause ein sehr undeutliches Bild von Albanien und den Albanern hat. Aus „AktenzeichenXY“ kennt man sie größtenteils als Mafiabanditen, Drogenbosse und Kleinkriminelle. In Albanien sind mir freundliche, hilfsbereite Menschen begegnet, die sehr aufgeschlossen sind und sich die beste Mühe geben, um den wenigen Touristen im Land einen positiven Eindruck zu vermitteln.
Aber Albanien war nur die erste Station meiner Balkan-Reise. Wenn man die gewohnte Straße zurück zum Hostel geht und es scheint, dass einem die Gesichter der Entgegenkommenden bekannt vorkommen, ist es an der Zeit weiterzuziehen.

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